Lesen gefährdet die Dummheit

Ich sitze hier und lese einen Dichter.
Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht.
Sie sind in in den Büchern. Manchmal bewegen sie sich
in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden
zwischen zwei Träumen.
Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein.
Warum sind sie nicht immer so?
Du kannst hingehen zu einem
und ihn leise anrühren: er fühlt nichts.
Und stösst du einen Nachbar beim Aufstehen
ein wenig an und entschuldigst dich,
so nickt er nach der Seite,
auf der er deine Stimme hört,
sein Gesicht wendet sich dir zu
und sieht dich nicht, und sein Haar
ist wie das Haar eines Schlafenden.
Wie wohl das tut.
Und ich sitze und habe einen Dichter.
(Rainer Maria Rilke)

merkuzia - 4. Sep, 20:18